20 Jahre

Zweieinhalb Stunden Zufahrt, das Nikotinpflaster wirkt. Ein bisschen nervös bin ich trotzdem. Tante D. holt mich vom Bahnhof ab, keine zehn Minuten später begrüße ich A. Ein herzliches Lächeln, er gibt mir die Hand und ich drücke ihm zwei Bussis auf die Wangen.

Dann, zum ersten Mal seit rund zwanzig Jahren, höre ich ihre Stimme. Ich gehe um die Ecke und da steht sie vor mir, meine Cousine L. Wir haben denselben Gedanken, sie spricht ihn aus: „Mensch, lang ist’s her! Und jetzt sind wir beide groß geworden!“ Wir lachen.

Hier, in diesem Dorf in Oberösterreich, haben wir uns das letzte Mal gesehen, als ich zehn Jahre jung war.

Es ist unser erster gemeinsamer Abend und es will mir nicht recht gelingen, ganz locker zu sein. Dann doch lieber das Nikotinpflaster runter nehmen und eine rauchen.

Am nächsten Morgen bin ich dann ganz im Familen-Modus. Wir reden stundenlang und ich merke, wie sehr sie mir gefehlt haben. Am Nachmittag machen wir einen Bummel durch den Ort. Ich muss alles fotografieren.

Am Sonntag ziehen meine Cousine L., ihr Lebensgefährte A. und ich zu dritt los. Tante D., an sich in Pension, kommt ja zu nichts und muss arbeiten. Mit einem Zwinkern komplimentiert sie uns hinaus. Wir fahren zu einem Almsee.

Am Abend ist die Viererbande wieder vereint und meine Tante ruft uns schon vom Fenster aus zu, sie hätte uns vermisst. Wir sie natürlich auch, antworten wir. Dann essen wir Schnitzel und trinken Most.

Auf einmal ist schon Montag, L. und A. fahren weiter nach Italien. Doch dieser Abschied ist nicht für Lange. L. kommt im November nach Wien und ich sage, ganz nebenbei: „Ich war noch nie in Bremen.“

 

 

Vitamin B

Ich war zwölf Jahre jung, da beschloss ich, Tänzerin werden zu wollen. Ich hatte erste Erfahrung mit Jazztanz gesammelt und war begeistert. Wollte weiter machen, alles lernen – Ballett, Jazz und Stepptanz.

Wenn man das beruflich machen möchte, muss man zum Vortanzen gehen. Audition nennt sich das Neudeutsch. Ich hab’s probiert und bin in der ersten Runde rausgeflogen. Dicke, fette Tränen hab‘ ich geweint. Aber das war lediglich mein erster Versuch.

Musikalisch verwirrt, wie ich in meinen Teenagerjahren war, haben mir damals Musicals gefallen. Und wer bei solchen mitwirken möchte, muss nicht nur tanzen, sondern auch singen und schauspielern können. Also, kurzerhand: die Mama angefleht, ja, ich weiß, Gesangsstunden sind teuer und wir haben angeblich nicht viel Geld, aber es geht um meinen großen Traum und der ist wichtiger, als alles andere in meinem Leben.

Ich seh’ in meiner Tanzschule den Aushang eines Gesangslehrers und zwei Wochen später fange ich an, schüchtern zu trällern. Weil, ich weiß nicht wirklich, wie das geht. Damit meine ich, dass mir nicht klar ist, dass es die zarte Kopfstimme und die kräftige Bruststimme gibt. Ich traue mich nicht so recht und bleibe bei der ersten Variante. „Süß“ und „hell“ sei meine Stimme – was als positives Feedback gemeint war, kommt bei mir gar nicht gut an.

Jetzt bringt man das vielleicht nicht unbedingt mit Musicals in Verbindung, aber ich will kräftig und dunkel sein. Äh, singen.

Ein paar Monate vergehen und ich gehe zu meinem zweiten Vortanzen, inklusive Singen und Schauspiel-Improvisation. Überwinde drei Hürden und scheide erst in der letzten Runde aus. Diesmal bin ich gar nicht so enttäuscht, obwohl ich’s fast geschafft hätte. Gerade weil ich so weit gekommen bin, sehe ich voller Hoffnung in meine Zukunft als Musicaldarstellerin.

Kurz darauf nehme ich im Sommer an einem dreiwöchigen Workshop teil. Mit allem, was dazugehört. Tanzen und Schauspielen in der Gruppe, Gesangsunterricht auch einzeln. Am Ende eine Aufführung. Ich singe zum ersten und letzten Mal in meinem Leben ein Solo und traue mich über die Bruststimme drüber.

Und jetzt kommt’s!

Gesangslehrer T., der mit meiner Tanzschule verbandelt ist und mich vor dem Workshop zwar nicht gekannt hat, ich ihn aber sehr wohl – er war mir ein Begriff, wie es so schön heißt – hat die Frechheit, mir nach der geglückten Aufführung in Bezug auf die unlängst schiefgegangene Audition zu sagen: „Wenn wir dich vorher gekannt hätten, hätten wir dich aufgenommen.“

Und da war sie wieder: die Enttäuschung. Reicht Talent alleine nicht aus? Muss man mit jemandem verbandelt sein, sprich beim richtigen Gesanglehrer Unterricht nehmen, um bei einer Produktion mitwirken zu können?

Mir scheint, ja.

Wahrscheinlich wollte er mir Mut machen, so nach dem Motto: „Jetzt kennen wir dich. Mach weiter.“ Ich hingegen war maßlos enttäuscht von der Szene und der Tatsache, dass ich zwar augenscheinlich Talent hatte, mir aber die Kontakte gefehlt haben. Also hab’ ich das Handtuch geschmissen und bin Studieren gegangen.

Ich scher’ mich einen Dreck um Vitamin B, so viel ist klar. Und das, so meine ich, macht aus mir einen gradlinigen, standhaften Menschen.

Darauf bin ich mehr stolz als ich es jemals auf mich sein könnte, wenn ich diesen oder jenen Job bekommen hätte, weil ich die „richtigen“ Connections habe.

Über das Schnarchen

Ich, Frau, schnarche gelegentlich. Mal lauter, mal leiser. Mal gar nicht. Unlängst war ich im Krankenhaus. Meine Zimmerkollegin war ganz o.k., nur halt recht gesprächig.

Ich schlafe früh ein, sie liest noch. „Jetzt werd ich gleich narrisch, das ist abnormal!“, höre ich plötzlich und wache verschreckt auf. Mir fallen die Augen zu, ich bin hundemüde – traue mich aber nicht mehr, einzuschlafen.

Am nächsten Morgen muss ich an meine Psychotherapeutin denken. Wir arbeiten zeitweise mit einem Skriptum, in dem es um das Wahrnehmen, Benennen, Ausleben und Abschwächen von Gefühlen geht. Ich habe gelernt, dass es ein primäres und ein sekundäres Gefühlsnetz gibt. Das primäre Netz wird aktiviert, wenn etwas in der Gegenwart passiert. Das sekundäre Netz hingegen speist sich aus der Vergangenheit. Da werden alte Gefühle, wie z.B. Angst, reaktiviert und es kann sein, dass man nicht entsprechend der aktuellen, sondern der alten, längst vergangenen Situation handelt.

Jetzt, was war in mir los? Ich fühlte mich an eine Situation aus meiner Kindheit erinnert. Ich, so um die zehn Jahre jung, war beim Kuchenbacken, habe irgendetwas „falsch“ gemacht und meine Mutter meinte daraufhin: „Du bist ja nicht normal!“

Das hab‘ ich mir gemerkt.

In der nächsten Nacht klatscht die Zimmerkollegin wie wild. Ich schrecke auf, sage tramhappert: „Was ist das für ein Geräusch?“ Keine Antwort.

Peinlich berührt, suche ich am nächsten Morgen das Gespräch mit einer Krankenschwester. Sie wirkt etwas verdutzt, weil es mir so peinlich ist, dass ich schnarche. Es sei nicht so schlimm, versichert sie mir. Ob ich denn eine Ahnung hätte, wie laut so manch anderer Patient des Nächtens röchelt?

„Ja, aber ich denk mir, ich bin eine Frau und sollt nicht schnarchen.“

„Frauen haben denselben Rachen wir Männer.“ Sie lächelt mich freundlich an und ich bin erleichtert.

Ich muss zugeben, ich kenne auch die andere Seite. Ich, siebzehn Jahre alt, muss mit meinem drei Jahre älteren Bruder im selben Zimmer schlafen, weil wir Besuch aus Budapest haben. Wir mussten nicht im selben Bett schlafen, das möchte ich schon dazu sagen. Mir wäre es jedoch lieber gewesen, das Zimmer mit unserer Mutter zu teilen, war aber nicht dazu in der Lage, das zu artikulieren. Ich bin schließlich so aufgewachsen, dass meine Bedürfnisse eine untergeordnete Rolle spielen.

Wie auch immer, es wird spät und wir gehen Schlafen. Mein Bruder – schnarcht. Ich mache Zischlaute, damit endlich eine Ruh’ ist. Er wacht auf und herrscht mich an: „Was machst du da!?“

„Du schnarchst.“

Stille.

Ich kann nicht schlafen.

Eine Geschichte aus der Psychiatrie

Nicolas Ofczarek und Gunkl sind in der Psychiatrie – zumindest bin ich dieser Meinung. Bei Herrn Ofczarek bin ich mir ganz sicher, bei Gunkl hingegen nicht.

Herr Ofczarek hat – so wie es sich für einen gestandenen Kammerschauspieler gehört – eine tiefe, kräftige Stimme. Ich erfahre erst später, dass er eine manische Phase hat und gar nicht der ist, für den ich ihn halte.

Ich, zum ersten Mal psychotisch und vollkommen verängstigt, traue mich des Abends nicht in den Raucherraum. Dort finden regelmäßig Parties statt. Zwar ohne Alkohol, denn wir sind ja auf der psychiatrischen Akutstation, aber dennoch – der Lärm dringt bis zu meinem Zimmer am anderen Ende des Ganges vor.

„Traust du dich am Abend in den Raucherraum?“, frage ich am nächsten Tag ganz vorsichtig einen recht ruhig und sympathisch wirkenden Patienten.

„Ja.“ sagt er und mir scheint, als könne er meine Frage nicht ganz nachvollziehen.

Vier Jahre später lerne ich Gunkl kennen. Ich bin nicht in einem voll-, sondern grenzpsychotischen Zustand. Höre Stimmen, kann mich aber von ihnen abgrenzen und sie als Teil meiner Erkrankung wahrnehmen.

Ich hab gedacht, Gunkl ist Nichtraucher, schießt es mir durch den Kopf. Er kommt aus der Schweiz und trägt kurze Hosen. Ich hingehen zwei Pullis, weil mir so kalt ist. Er zieht genauso gierig an seiner Zigarette, wie ich – und schon kommt wieder die Paranoia in mir hoch und ich frage mich, ob alles um mich herum gestellt ist, ob er mich nachmacht?

Eines Morgens, da ist Gunkl angezogen wie ein Twinny, das Eis aus meiner Kindheit Anfang der Neunziger Jahre. Oben knallgrün, unten orange. Fehlt nur eine braune Haube statt dem Schokoladenüberzug. Ich muss schmunzeln. Das ist in der Psychiatrie erlaubt.

Man kann ja miteinander reden und nach ein paar Tagen schaffe ich es, mich Gunkl beim Frühstück vorzustellen. „Entschuldigung, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin die Emilia.“

„Hans.“, sagt er ganz freundlich und lächelt sogar ein bisschen. Irgendwie bin ich enttäuscht.

Wer kommt als Nächster, gar Heinz Fischer Hand in Hand mit seiner Margit?

Das macht man nicht

Ich finde, es gibt Dinge, die gehören sich einfach nicht. Damit meine ich keineswegs so etwas wie Knigge, im Gegenteil. Ab und zu schleck’ ich gern mal ein Messer ab. Es geht um etwas Anderes.

Unlängst hatte ich Geburtstag und N., eine meiner liebsten Freundinnen, hat mich gefragt, was ich mir wünsche. Ich finde, das war eine sehr schöne Geste.

Jedenfalls habe ich mir einen finanziellen Beitrag für meine nächste, namentlich die dritte, Tätowierung gewünscht. Sie hat für mich eine besondere Bedeutung und ich wollte, dass meine Mädls ein Teil davon sind.

Gewünscht, getan. Auf meine Mädels ist Verlass. Ich bekomme unter anderem eine Trinkflasche mit einem illustrierten Panda drauf, weil ich seit jeher unheimlich auf dieses knuffige Tier stehe. In dem Behälter der Beitrag meiner Liebsten zur nächsten „Zeichnung auf meinem Körper“, wie A. so schön gesagt hat.

Jetzt, warum ist diese Tätowierung so besonders für mich? Weil es um die Verbildlichung meiner Auseinandersetzung mit einer Erkrankung geht, die mich seit mittlerweile fünf Jahren begleitet. Ich kenne Geschichten von Menschen, die psychisch erkrankt sind, und auf einmal waren neun von zehn FreundInnen weg. Nicht so bei mir. Besagte Mädls halten zu mir, komme, was wolle.

Ich bin manisch-depressiv, auch bekannt als Bipolare Störung. Um mit etwaigen Vorurteilen aufzuräumen: es ist nicht so, dass man ständig von einer Phase in die nächste kippt. Es gibt dazwischen auch stabile Phasen, in denen es mir durchaus gut geht. Das hat auch, aber nicht nur, mit einer guten medikamentösen Einstellung zu tun, viel Selbstreflexion und in Zusammenhang damit, ganz wichtig: regelmäßige Psychotherapie.

Aber zurück zum eigentlichen Thema. Was macht man nicht?

Da muss ich kurz ausholen. Ich hatte Ende Juli einen kleinen finanziellen Engpass und mein Bankkonto war drei Tage lang kurz im Minus. Ja, da war schon der Gedanke, mir das Geld von den Mädls „auszuborgen“ und es dann – ich schwöre! – auf jeden Fall wieder zurückzulegen. So hätte ich es vermeiden können, mein Konto zu überziehen.

Aber, hab ich mir dann gedacht: Es wäre nicht dasselbe Geld, und ich fände die Aktion ganz einfach nicht o.k. „Es sind ja nur Geldscheine“, könnte man sagen. So denke ich aber nicht.

Und, am Anfang dieses Monats, als ich dann wieder ein Plus am Konto zu vermerken hatte, war ich ganz schön stolz auf mich.